Einer meiner Vorsätze ist, öfter ins Museum zu gehen. Leider bin ich kein Kunstexperte, aber die Atmosphäre in den Museen und die Menschen, die dort arbeiten, faszinieren mich sehr. Auf jeden Fall möchte ich mehr über Kunstgeschichte lernen.
Deshalb habe ich letztes Wochenende einen Ausflug nach Kassel gemacht. Im dortigen Museum Schloss Wilhelmshöhe gab es eine außergewöhnliche Kunstausstellung, die sich intensiv mit dem Thema Queerness in der Kunstgeschichte auseinandersetzte. Die Sonderausstellung „Alte Meister que(e)r gelesen“ warf einen neuen Blick auf die Sammlungen alter Meister und deren Darstellungen alternativer Lebensentwürfe, Körperverständnisse und Sexualitäten. Begleitet wurde ich von einem guten Freund aus Düsseldorf, der sich in der Kunstszene gut auskennt.
Ein lehrreicher Ausflug nach Kassel
Mit rund 40 Exponaten war es eine relativ kleine Ausstellung, die aber eine große Breitenwirkung auf das Publikumerzielte. Bemerkenswert war die Konzeption der Ausstellung. Die Ausstellungsmacher:innen wollten den Betrachtern alternative Sichtweisen und neue Perspektiven auf die historischen Sammlungsbestände der Alten Meister – also der Kunst bis 1800 – eröffnen. Dazu bedienten sie sich in den verschiedenen Ausstellungsbereichen unterschiedlicher Methoden. Es ging darum, dem Bild von Mann und Frau in der Kunst bestimmte Attribute und Eigenschaften zuzuschreiben, wie diese Rollenzuschreibungen motivisch verwischt und uneindeutig werden. Und schließlich, welche Lieben, Begehren und Sexualitäten sich künstlerisch queer lesen lassen.
Nur welche Besucher:in sieht was in dem einzelnen Werk? Besonders spannend wird dies in jenem Teil der Ausstellung, in dem die traditionelle Bildbeschreibung einer que(e)ren Interpretation gegenübergestellt wird.
Durch die aktive Einbindung der Besucher*innen wurde ein Raum für Kommunikation und Aushandlung über die Deutungsgeschichten der Objekte geschaffen. Es war faszinierend zu sehen, wie die Ausstellung nicht nur die Mehrdeutigkeit der historischen Bildsprache thematisierte, sondern auch eine Sensibilisierung für queere Themen anstrebte.
Dialog der Zeiten: Queerness in der Kunst
Der Zugang zur Ausstellung erfolgte durch einen alten Kleiderschrank. Dies war eine raffinierte Anspielung auf den Begriff „Coming out“, eine Abkürzung für „coming out of the closet“, also ‚aus dem Schrank kommen‘. In diesem Fall handelte es sich jedoch eher um ein „Coming In“, denn die Besucher gingen in den Schrank hinein und nicht heraus.
Besonders beeindruckt hat mich die vielfältige Auswahl an Objekten, die von der Antike bis um 1800 reichte und sowohl nach Bildthemen jenseits der Norm als auch nach dem Potenzial konventioneller Motive für queere Lesarten fragte. Es war spannend zu sehen, wie der Begriff ‚queer‘ als fließender Ausgangspunkt für Diskussionen genutzt wurde.
Interessante Exponate
Ich möchte euch drei klassische Kunstwerke aus der Ausstellung zeigen, die mich durch ihre offensichtliche Queerness besonders überrascht haben. Jedes dieser Bilder zeigt auf seine Weise die Komplexität und Tiefe, mit der Künstler im Laufe der Jahrhunderte queere Themen und Identitäten untersucht und dargestellt haben.
Elisabetha Knechtlin: Frau mit Vollbart
Besonders in Erinnerung geblieben ist mir das Porträt einer bärtigen Schweizerin – ein Werk, das ich ohne die Erläuterungen meines Freundes wahrscheinlich völlig falsch interpretiert hätte.
Dargestellt ist die 1620 geborene Elisabetha Knechtlin, die unter langem Bartwuchs litt, wie aus der Inschrift des Bildes hervorgeht.
Albrecht Dürer – Das Männerbad
Mein Lieblingsbild zeigt den Vorläufer der heutigen Gaysauna: Albrecht Dürers homoerotischer Holzschnitt „Das Männerbad“ zeigt vier Männer in einer Badelaube, die zwei Musikern lauschen, während ein Jüngling die Szene von außen beobachtet. Bemerkenswert ist der Wasserhahn, der einen Penis zu symbolisieren scheint. Auch die beiden Männer im Vordergrund geben Anlass zu Spekulationen… Wonach streckt der Linke seine Hand aus? Übrigens wird das Werk auch als Anspielung auf die damals noch unbekannte Seuche Syphilis gesehen.
Die dialogische Auseinandersetzung mit aktuellen Themen und der Mehrdeutigkeit der Bildsprache ermöglichte es, historische Kontexte neu zu interpretieren und Aneignungsgeschichten queerer Bewegungen lebendig werden zu lassen. Die Geschichten des Heiligen Sebastian als Ikone der Schwulenbewegung und der Amazone als Symbol lesbisch-feministischer Emanzipation waren nur zwei Beispiele, die verdeutlichten, wie Kunstwerke im Laufe der Zeit unterschiedlichste Bedeutungen annehmen können.
Hans Baldung – Herkules und Antäus
Viele der in Kassel ausgestellten Objekte zeigen Szenen aus der antiken Götterwelt. Dies war zu ihrer Entstehungszeit eine gute Möglichkeit, Homosexualität darzustellen.
Das Gemälde „Herkules und Antäus“ des Malers Hand Baldung zeigt eine gewalttätige Szene zwischen Herkules und dem jungen Riesen Antäus. Baldung war vor 500 Jahren ein Star der Kunstszene und dafür bekannt, Grenzen zu überschreiten.
Aus heutiger Sicht wirkt die Szene fast wie aus einem brutalen Schwulenporno. Das Gemächt des Herkules wird von einer Löwenpranke überdeckt.
Aufbruch zu neuer Kunstkenntnis
Diese Sonderausstellung in der documenta-Stadt war eine Bereicherung für mein Verständnis von Kunstgeschichte und ihren queeren Aspekten. Mir wurde klar, wie wichtig es ist, die eigene Sozialisation zu hinterfragen und offen zu sein für die Vielfalt unterschiedlicher Lebensentwürfe. Kunst ist immer auch ein Spiegel der Gesellschaft und hat als solcher die Kraft, zu sensibilisieren, zu inspirieren und Dialoge über essentielle menschliche Themen anzustoßen.